„Ob ein Bewerber zu uns passt, spüre ich am ersten Händedruck“ – das sagte mir einmal ein Personalchef in einer Begrüßungsrunde eines Seminars zu Methoden der Personalauswahl. Der Glaube an die eigene untrügliche Intuition und eine fehlerfreie Wahrnehmung ist für Führungskräfte oft eine gefühlte Erfolgsversicherung – ein Strohhalm Sicherheit in dem weiten Feld der Ungewissheiten im Leben einer Führungskraft. Und ich gehe noch einen Schritt weiter: Objektives Wahrnehmen und Beurteilen sind für uns eigentlich die Grundlage jeden professionellen Handelns. Wir erwarten von Personen im professionellen Kontext, von Politiker*innen, von Lehrer*innen, Ärzt*innen und Führungskräften, dass sie sich bei Einschätzungen von ihren Emotionen frei machen und sich nicht von Täuschungen in die Irre führen lassen. Diese Unabhängigkeit und Neutralität beanspruchen wir häufig für unsere eigene Meinungs- und Entscheidungsfindung und werfen das Fehlen dieser Eigenschaften gerne auch anderen Personen vor, vor allem dann, wenn sie zu anderen Schlüssen kommen als wir selbst.
Das Feld des Wahrnehmens und Beurteilens bzw. Entscheidens ist das Herzstück aller psychologischen Forschung und leider müssen wir bei der wissenschaftlichen Betrachtung der menschlichen Wahrnehmung und Entscheidung feststellen: Die fehlerfreie, unabhängige, also objektive Wahrnehmung ist ein Mythos – denn es gibt sie gar nicht. Diese Erkenntnis ist schwer auszuhalten, besonders dann, wenn wir in bestimmten Situationen von Personen abhängig sind, zum Beispiel von Chirurg*innen oder Investmentbanker*innen. Und es fällt uns schwer zu akzeptieren, dass wir auch selbst nicht die Fähigkeit zur Objektivität haben.
Statt sich der Illusion hinzugeben, dass man selbst gefeit ist vor fehlerhaften Schlüssen, ist es entscheidend, die psychologischen Effekte zu kennen, die uns zu Fehleinschätzungen führen. Nur dann können wir bewusst gegensteuern und Maßnahmen zur Objektvierung unserer Entscheidungen festlegen und müssen nicht weiter an den magischen Händedruck glauben. Genau aus diesem Grund möchte ich in den nächsten Wochen jeweils einen psychologischen Effekt vorstellen (siehe Artikel Von Blendern und Mauerblümchen- der Halo- und Horn Effekt und Faktengestützte Entscheidungsfindung), der uns bei unserer Entscheidungsfindung in die Irre führen kann.
Ich lade Sie dazu ein, in ihrem Alltag bei sich selbst und anderen Menschen auf praktische Beispiele für die jeweiligen Effekte zu achten. Das Ergebnis ist ein geschärftes Verständnis für die eigenen Grenzen der objektiven Wahrnehmung und eine Aufmerksamkeit, an welchen Stellen wir unsere Urteilsfähigkeit durch gezielte weitere Informationen oder einen Perspektivwechsel über ein Feedback einer anderen Person (siehe Artikel zu Feedback Putin und der blinde Fleck) objektivieren und damit verbessern können.
Der Kontrasteffekt
Beginnen möchte ich mit dem Kontrasteffekt. Er besagt, dass wir einen Faktor als besonders auffällig wahrnehmen, wenn er im Kontext mit einem weniger ausgeprägten Faktor steht. Ein ganz bekanntes Beispiel ist die Wahrnehmung der mittleren Kreise im folgenden Bild:
Praktische Anwendung
Praktische Anwendungen für den Kontrasteffekt gibt es in vielen Bereichen. Zum Beispiel in der Marktforschung bei reduzierten Artikeln: Während uns 150 Euro für Schuhe für sich alleine betrachtet nicht besonders günstig vorkommen, nehmen wir die 150 Euro anders wahr, wenn daneben der frühere Preis von 290 Euro steht. Auch bei der Produktgröße gibt es Kontrasteffekte. Liegt die 200g Schokolade direkt neben der 100g-Schokoladentafel im Verkaufsregal, dann wirkt die 200g-Tafel deutlich größer und die 100g Tafel deutlich kleiner als jede Tafel einzeln. Auch bei der Bewerberauswahl gibt es Kontrasteffekte und wir neigen dazu ein Einstellungsgespräch mit einem Bewerber als positiver zu bewerten, wenn es nach einem besonders schwachen Bewerber stattfindet.
Darüber hinaus sind Führungskräfte in der Gefahr, Fehleinschätzungen zu treffen, wenn Sie Mitarbeiter*innen mit extremen Leistungsausprägungen miteinander vergleichen. Haben Sie beispielsweise einen Mitarbeiter, der besonders schnell ist, dann erscheint Ihnen ein Mitarbeiter mit einem durchschnittlichen Arbeitstempo als langsamer. Diese Effekte gibt es ebenfalls bei Arbeitsqualität, Sorgfalt, Kontaktfreudigkeit und anderen berufsbezogenen Eigenschaften. Der Kontrasteffekt kann im Übrigen auch mit der Führungskraft selbst auftreten, zum Beispiel, wenn die Führungskraft selbst eine stark ausgeprägte Kompetenz in einem bestimmten Bereich hat, kann sie ihren durchschnittliche*n Mitarbeiter*in als besonders schwach erleben.
Psychologischer Praxistipp
Schützen Sie sich vor der Ausprägung des Kontrasteffekts, indem Sie die Mitarbeiter*innen nicht untereinander oder mit Ihnen selbst vergleichen, sondern mit einem detaillierten Anforderungs- oder Kompetenzenprofil. Das schafft einen neutralen Erwartungsrahmen, an dem Sie die Leistungen Ihrer Mitarbeiter*innen messen können.
Zugegeben, das Erstellen einer Tätigkeitsbeschreibung in Form eines Anforderungs- und Kompetenzenprofils kostet Zeit und Mühe, aber die Investition lohnt sich. Neben der objektiveren Leistungseinschätzung der Mitarbeiter*innen können Sie dieses Profil zur Personalentwicklung nutzen, indem Sie die dort definierten Erwartungen transparent an Ihre Mitarbeiter*innen kommunizieren und ihnen in regelmäßigen Mitarbeitergesprächen zu Ihrem Leistungsstand Feedback geben und gegebenenfalls Fördermaßnahmen festlegen.