Wir Menschen sind freiheitsliebende Geschöpfe – nichts ist uns so heilig, wie die subjektiv empfundene Freiheit unserer Gedanken und unseres Verhaltens.Wird unsere Freiheit eingeschränkt, reagieren wir psychologisch mit dem Phänomen der Reaktanz, der Motivation zur Wiederherstellung unserer Freiheit (Brehm, 1966). Dieser psychologische Effekt ist umso stärker, je wichtiger uns unsere Freiheit in dem betroffenen Bereich ist, je höher wir unsere Freiheit in diesem Bereich bisher wahrgenommen haben und je höher wir unsere fachliche Kompetenz in diesem Bereich einschätzen. Auch gibt es Persönlichkeitsausprägungen von Menschen, die stärker mit Reaktanz reagieren.
Reaktanz wird immer dann ausgelöst, wenn unsere Verhaltensspielräume beschnitten werden oder wenn wir uns von einer Person in unserer Freiheit in Bezug auf unsere Meinungsbildung beeinflusst bzw. manipuliert fühlen.
Als Beispiel für Reaktanz kennen wir im unternehmerischen Kontext Verhalten, welches sich gegen neue Regeln und Vorschriften wendet. So führen strengere Kontrollen der Arbeitszeit bei Mitarbeiter*innen zu kreativen Umgehungsversuchen als eine direkte Reaktion auf die Verschärfung. Dadurch kann sich eine paradoxe Spirale entwickelt, da die Unternehmensleitung zu immer härteren Sanktionen greift und am Ende die Unternehmenskultur und das gegenseitige Vertrauensverhältnis dauerhaft gefährdet. In meinen Beratungskontexten werden mir dann häufig die lustlosen Mitarbeiter*innen und der gesellschaftliche Niedergang der Arbeitsmoral als Gründe genannt. Aus dem Blickwinkel der psychologischen Reaktanz haben die Führungskräfte jedoch diesen Teufelskreis durch die schärfere Kontrolle der Arbeitszeit selbst ausgelöst.
Wenn Sie als Führungskraft schärfere Kontrollen der Arbeitszeit oder Arbeitstätigkeit einführen müssen oder wollen, ist es sinnvoll zu prüfen, ob diese Notwendigkeit tatsächlich für alle Mitarbeiter*innen gilt. Bei einzelnen Verstößen von wenigen Mitarbeiter*innen ist eine gute Alternative, das direkte Führungsgespräch zu suchen und individuelle Maßnahmen zu vereinbaren. Damit verhindern Sie, dass Sie durch einen Generalverdacht gegenüber allen Mitarbeiter*innen durch den Reaktanz-Effekt die Verschlechterung der Motivation und der Vertrauenskultur auslösen.
Ist eine stärkere Kontrolle unvermeidbar, zum Beispiel weil es Änderungen der rechtlichen Vorgaben gibt, dann ist die frühzeitige Information und Einbindung der Mitarbeiter*innen in die Implementierung der neuen Kontrollmaßnahmen wichtig. Hierdurch können Sie das subjektive Empfinden der Freiheitseinschränkung reduzieren und reaktantes Verhalten verhindern.
Psychologischer Praxistipp
Sie können Mitarbeiter in die Implementierung von Kontrollmaßnahmen einbinden, in dem Sie den Mitarbeitern den Nutzen bzw. die Notwendigkeit der zusätzlichen Kontrollen transparent darlegen. Darüber hinaus ist es hilfreich, die Mitarbeiter zum Beispiel in Arbeitsgruppen mitentscheiden zu lassen, in welcher Form Kontrollen sinnvoll sind und zu welchem Zeitpunkt die Kontrollen die Arbeitsabläufe am wenigsten unterbrechen oder stören.
Reaktanz wird auch dann ausgelöst, wenn es „nur“ um Meinungsbeeinflussung geht. Wir kennen das zum Beispiel bei aufdringlichen Straßenhändlern oder Haustürgeschäften. Je mehr die Händler versuchen, uns mit zeitlichem Druck („nur noch heute“), emotionalem Druck („Ich habe fünf kranke Kinder und brauche dringend das Geld für eine Operation“) oder einseitige Information über die Vorteile des Produktes („Vergessen Sie alle anderen Diätprodukte – kaufen sie diese Pille!!!!“) unter Druck zu setzen, desto mehr verspüren wir Zweifel und einen inneren Widerstand gegenüber dieser Meinungsbeeinflussung. Wir wollen selbstbestimmt sein und unsere eigene Meinung bilden, statt uns wie unmündige Kinder behandelt zu fühlen, die zu dumm sind selbst zu denken und in eine Richtung gedrängt werden müssen.
Dieses Bedürfnis ist ganz unabhängig von dem objektiven Wahrheitsgehalt der genannten Inhalte, die wir ja in vielen Fällen gar nicht überprüfen können. Es geht nur um die Art und Weise der Kommunikation, die uns dazu bringt, die Meinung unseres Gegenübers zu übernehmen oder uns kritisch davon abzuwenden. Besonders gut untersucht wurden Kampagnen für gesundheits- oder umweltrelevante Aufklärung. Wird bei der Gestaltung der Kommunikation der Reaktanz-Effekt nicht berücksichtigt, kann durch übertriebene oder massive Kommunikation das nicht gewünschte Verhalten beibehalten oder schlimmstenfalls verstärkt werden (siehe Grafik).
In der Grafik wird deutlich, dass die optimale Kommunikation ein schmaler Grat zwischen der Sensibilisierung für das Thema und den negativen Effekten der Reaktanz ist.
Dieses Wissen können sich Führungskräfte zu Nutze machen, in dem sie bei der Kommunikation von Neuerungen oder Veränderungen der Arbeitssituationen keinen übertriebenen Druck aufbauen, sondern den Mitarbeitern Informationen geben, aber ihnen die Interpretation und Meinungsbildung selbst überlassen.
Psychologischer Praxistipp
Bei der Kommunikation von gewünschten Verhaltensveränderungen von Mitarbeiter*innen kann es auch ein „zu viel des Guten“ geben. Es ist sinnvoll, dies bei der „Dosierung“ schriftlicher und mündlicher Kommunikation angemessen zu berücksichtigen.
Sprachlich bevormundende und freiheitseinschränkende Formulierungen wie „sollte“, „muss“ oder die Imperativ -Formen lösen Reaktanz aus.
Wenn Sie Konsequenzen aufzeigen, können Sie die Attraktivität der positiven Folgen nutzen, statt die negativen, abschreckenden Folgen der Nichtbeachtung darzustellen.
Mitarbeiter*innen fühlen sich ernstgenommen, wenn sie in die Planung und Umsetzung von Veränderungskommunikation einbezogen werden, denn sie wissen am besten, bei welcher Intensität der Bereich des Optimums überschritten wird.
Nach dem Lesen dieses Beitrags und dem Verständnis des Reaktanz-Effekts werden Sie nun in Ihrer Umgebung automatisch Beeinflussungsversuche in der Öffentlichkeit, in Ihren Unternehmen, im privaten Bereich und beim Einkaufen beobachten und bewerten – ein Lernfeld für die Feinjustierung Ihrer eigenen Beeinflussung in Ihrem Führungskontext.